Das Haus am Hügel
Die erbschaft des kleinen Hauses„Das Haus am Hügel“
Es war ein gewöhnlicher Morgen voller Aufträge, Mails und Terminkalender. Doch unter den Benachrichtigungen lag eine Nachricht, die anders war: „Nachlass von Herrn Johannes Reiter“. Der Name ließ Sebian innehalten. Johannes Reiter – sein Großonkel. Aus Kindertagen erinnerte er sich nur vage: ein eigenwilliger Mann mit leichtem Lächeln und einer Vorliebe für Pflanzen, Geschichten und vollgestopfte Schubladen.
Der Brief war sachlich: Johannes war verstorben, ohne weitere Verwandte, und Sebian – heute Mitte dreißig und Robotikingenieur mit einem ausgeprägten Hang zur Unabhängigkeit – erbte sein Haus im abgelegenen Dorf Falkenried, irgendwo in einem der sanften deutschen Mittelgebirge. Ein kleiner Ort, kaum 400 Einwohner, viel Natur, wenig Lärm.
Sebian zögerte kaum. Seine Arbeit erlaubte Freiheit: Als freier Berater unterstützte er mittelständische Betriebe dabei, Industrie-4.0-Prozesse umzusetzen – digitale Fertigung, vernetzte Maschinen, automatisierte Workflows. Doch je tiefer er in die Welt der Sensoren und Datensätze eintauchte, desto stärker wuchs sein Wunsch nach Bodenhaftung. Das geerbte Haus kam wie ein Angebot aus einer anderen Zeit, das er nur zu gerne annahm.
Mit einem geliehenen Transporter und wenigen Kisten machte er sich auf den Weg. Die Straße schlängelte sich durch bewaldete Höhen und Täler, bis das Dorf in Sicht kam – wie gemalt: Fachwerkhäuser, bunte Gärten, ein Dorfladen mit angeschlossenem Café. Das Haus des Großonkels lag am Rande des Ortes, leicht erhöht, umgeben von verwildertem Brombeergebüsch, einem alten Apfelbaum und einem abgenutzten Gartenzaun.
Innen war es still und erstaunlich ordentlich. In der Werkstatt lagen alte Werkzeuge neben Notizen über Pflanzenzyklen und Mondphasen. Die Regale waren voller Bücher – nicht nur über Botanik, sondern auch über Mechanik, Technikethik und alte Automata. Offenbar hatte Johannes einst selbst gebastelt, experimentiert. Etwas in Sebian regte sich: eine leise Verwandtschaft im Denken.
Die ersten Wochen verbrachte er mit Arbeit und Anpassung. Morgens analysierte er Maschinenlayouts für Kunden, nachmittags saß er im Gras und hörte den Wind. Abends führte er Gespräche mit dem Schmied, dem Förster, der Bäckerin – alle neugierig, offen, und doch diskret. Hier zählte nicht, was man verdiente. Hier war wichtig, wie man den Sommer roch.
Sebian passte sich an – nicht in einem Projektplan, sondern im Rhythmus einer Landschaft. Das Haus wurde zu seinem Rückzugsort, aber auch zu einem neuen Ausgangspunkt. Manchmal dachte er, das Leben habe ihm nicht einfach eine Immobilie vermacht, sondern eine Einladung: zu etwas, das man nicht kalkuliert, sondern erlebt.